Das 5-Stufen-Konzept
Mein 5-Stufen-Konzept für Jazz-/Rock-Gitarre ist die Essenz aus mehr als drei Jahrzehnten der leidenschaftlichen Auseinandersetzung mit den harmonischen, melodischen und rhythmischen Grundlagen “neuzeitlicher” Jazz-, Rock- und Bluesmusik. Die faszinierenden Harmonielehren von “Altmeister” Hindemith bis Pass (“Joe Pass guitar style” - das beste und anspruchsvollste, das meines Erachtens jemals als eine effektive und hochkompakte Jazz-Harmonielehre verfaßt wurde) waren für mich Basis und Inspiration, diejenigen Aspekte herauszupicken und zu verfeinern, die für mich in der Praxis meines Gitarrenspiels am besten funktioniert haben. Kernpunkte hierbei sind die Vielfalt vielstimmiger (auch alterierter) Akkorde und ihre Funktionalität untereinander sowie - noch interessanter, weil noch mehr für die stilistische Identifikation einer musikalischen Persönlichkeit prägend - die über vertikale Akkordstrukturen für ein Solospiel anwendbaren horizontalen Melodie- oder Improvisationslinien. Die nachfolgenden 5 Punkte fassen das Konzept mit seinem Schwerpunkt auf der letztgenannten Problemstellung kurz zusammen:
- Die erste Stufe des Konzepts bezieht sich auf die Basis, die typischerweise die Essenz gängiger Harmonielehren ausmacht: die Lehre von den Skalen bzw. Tonleitern, wobei freilich üblichen Konventionen entsprechend die Kirchentonleitern, die Pentatonik und Blues-Tonleiter den Schwerpunkt darstellen, während alterierte Tonleiter, Ganzton-Tonleiter etc. eine sinnvolle Ergänzung bilden. Bekanntermassen sind den Tonleitern leitereigene Akkorde zugeordnet, zu denen die Töne der Tonleiter “passen”. Hieraus kann ein grundsätzliches Improvisationsschema abgeleitet werden. Durch meine (leider kürzlich verstorbene) Mutter - sie war gebürtige Ungarin - bin ich sehr früh mit der jazzorientierten Musik der Sinti und Roma in Berührung gekommen, was mich bei den “Alternativ-Tonleitern” der Zigeuner-Tonleiter näher gebracht hat (Sinti und Roma mögen mir den in der Musik gebräuchlichen Ausdruck “Zigeuner-Tonleiter” nachsehen, er ist nicht respektlos gemeint, im Gegenteil). Seither fasziniert mich diese - für die Jazzgitarre auch von Django Reinhard bekannt gemachte - Musik, der ich zwar nicht das Wasser reichen kann, von der ich jedoch sehr viel gelernt habe. Immer noch stehe ich auch heute noch ergriffen vor diesen so unbekannten wie unglaublich kreativen Musikern und höre mir die einzigartige Vibration des Saitenspiels auf Gitarre und Geige in der festen Überzeugung an, dass weltbekannte und gefeierte Geigenvirtuosen aus der klassischen Musik diese musikalische Ausdrucksform in ihrer Tiefe nicht einfangen können. Wie schön, dass die eigentliche Magie der Musik nicht vom Konservatorium, sondern von ganz innen kommt...
- Die zweite Stufe baut auf den Skalen auf und befasst sich mit den chromatischen Annäherungen, d.h. dem Einsatz leiterfremder Töne für die Melodieführung und Improvisation. Gerade im Jazz hat die “Betonungslehre” eine weitläufige Entwicklung gefunden. Sie ist Ausdruck des Prinzips: Alle Töne sind grundsätzlich über einem Akkord einsetzbar, es kommt nur auf ihre Betonung an. Dies führt zu der Erkenntnis, dass die Töne über einem Akkord “Stabilitätsgrade” aufweisen, wobei der höchste Grad der Stabilität einem leitereigenen Akkordton entspricht. Ähnlich wie “exotische” Skalen und vielstimmige (alterierte) Akkorde bringen chromatische Annäherungen und Durchläufe mit Zwischentönen niedriger Stabilität, die auf ein “stabiles Tonziel” zulaufen, einen enormen “Farbwert” in die Musik. Diese “musikalischen Farbnuancen” erfordern allerdings eine tiefgründigere Befassung mit musikalischen Strukturen, zumal sie oberflächlichen Zuhörern schnell “schräg” vorkommen. Diese Befassung bringt unterdessen - wie im Leben auch - eine gewinnbringende Horizonterweiterung mit sich, da sich gewissermassen auch die emotionale Bandbreite der Musik - der Vielfalt des Lebens angleichend - weit öffnet. Hieraus mag sich für unsere heutige Zeit erklären, warum einfach strukturierte und konsumierbare Klangstrukturen dominieren, wobei ein Qualitätsmoment durch hochwertige Aufnahme- und Studiotechnik vorgetäuscht wird; hat sich auf diesem Wege das Produkt beim Hörer als verkäuflich erwiesen, so wird dieselbe Technik zum Werkzeug, um bei der Erstellung ähnlicher Produkte die Übereinstimmungen im verträglichen Rahmen zu halten. Führt man sich vor Augen, dass bereits die Klassiker unserer Musikgeschichte mit den zuvor beschriebenen “Farbwerten” grosse Musik geschrieben haben, so lässt sich doch erahnen, wie für viele von uns durch die bezeichnete, degenerative Entwicklung kulturelle Zugänge zu einer musikalischen Horizonterweiterung wegen schnöder Profitinteressen “verstopft” werden. Schliesslich ist es eine Binsenweisheit, dass ein Überangebot an einseitiger, primitiver Berieselung (Medien, Supermarkt etc.) stets ihre Spuren hinterlässt. Gottlob gibt es doch noch einige wenige Künstler, die auch in der zeitgenössischen Musik mit der vollen Farbvielfalt umgehen, was nach meiner Auffassung nichts mit dem oft zitierten Geschmacksache-Argument zu tun hat. Wie bereits an anderer Stelle angemerkt, sind es Musiker wie z.B. Sting, die sich (auch heute noch) dadurch auszeichnen, dass sie anspruchsvolle Anforderungen an Harmonik, Melodik und Rhythmik mit ihrer Musik erfüllen.
- Die dritte Stufe bezieht sich auf den gewinnbringenden Einsatz der Akkordik für Melodieführung und Improvisation. Im Laufe der Zeit bin ich auf einige musikalische Vorbilder gestossen, bei denen die Interessanz ihrer Improvisation auf eine bestimmte Struktur des Einsatzes ihres tonalen Materials zurückzuführen ist. Die vertikalen (“gleichzeitigen”) Tonstrukturen der Akkordik basieren üblicherweise auf einem Dreiklangsystem, das durch “gespreizte” Zusatztöne im Tonleiterschema erweitert werden kann. Daher sind freilich Akkordtöne als leitereigene und hochstabile (Solo-)Tonelemente melodisch und improvisatorisch verwendbar, aber in ihrer direkten Anwendung der Akkordbegleitung (“Arpeggio”) nur langweilig. Interessant wird jedoch die Angelegenheit, wenn melodisch und improvisatorisch aus der Gesamtheit der leitereigenen Drei- und Mehrklänge geschöpft wird, was zu weiten, interessanten “Bögen” in der Melodieführung bzw. Improvisation führt, wenn die maßgeblichen “Funktionalitäten” der Mehrklänge zum zugrunde liegenden Akkord - auch dieses entspricht einem musikalischen Farbwert - interessant umgesetzt werden. Leitereigene Dreiklänge mit Moll-Charakter (kleine Terz) über einem (ggf. komplexen) Dur-Dreiklang (grosse Terz) bilden Farbgebungen, die sich nicht nur in “Arpeggios”, sondern auch in “chord solos” verwenden lassen, d.h. Akkordstrukturen werden zu Melodie- bzw. Improvisationsstrukturen über einem zugrunde liegenden Akkord. Ein Meister dieser Techniken ist der von mir sehr geschätzte Studiogitarrist, Solokünstler und Bandmusiker (“Steely Dan”) Larry Carlton. Joe Pass wiederum ist ein Meister des vielseitigen Einsatzes von Akkord-Solos, wobei er die zuvor dargelegten Techniken auch kombiniert, etwa durch die chromatische (z.B. Halbton-Annäherung) von leitereigenen Akkorden über zugrunde liegenden Akkordstrukturen.
- Die vierte Stufe befasst sich mit der rhythmischen Ausgestaltung von Melodie- bzw. Improvisationslinien. Diese alternative Form der Betonung des Tonmaterials bezieht sich insbesondere auf den Einsatz punktierter, gedämpfter, “gestoppter” Noten/Töne sowie auf alle Formen des Einsatzes von vorgezogenen (Synkopen) und versetzten Noten etc., was vor allem im freien Improvisationsspiel dem Erlernen einer interessanten, pulsierenden und lebendigen “Redeführung” entspricht. Jeder Musiker weiss, dass ein noch so virtuoses, schnelles Abspielen des Tonmaterials langweilig ist, wenn ein Solo nicht mit dem Zuhörer “redet”, indem es Spannungen auf- und abbaut. Freilich kombiniert auch diese Stufe ihre Prinzipien mit den vorangegangenen Stufen, z.B. dadurch, dass eine Anwendung auf sich spannungsgetragen entwickelnde Akkord-Solos erfolgt.
- Die fünfte Stufe korrespondiert mit der dritten Stufe und befasst sich mit der Technik des Fingerpickings. Gemeint ist hier weniger dasjenige von Songwritern wie Carly Simon oder James Taylor; vielmehr bezieht sich diese Technik auf ein entsprechendes Melodie- bzw. Solospiel, das mit mehreren Fingern der rechten Hand schnelle, gefächerte Klangeffekte erzielt. Ein Meister dieser Technik ist sicherlich Mark Knopfler. Nachdem ich vor vielen Jahren die Plektrumtechnik für das Solospiel weitgehend aufgegeben habe und Fingerpick-Techniken für das Solo-Spiel einsetze, ergibt sich eine weitaus “grössere Nähe” zur Gitarre bzw. eine deutlich emotionalere Verbindung zwischen den Fingern und den Saiten. Die “innere Synchronisation”, die sich nach längerem Üben einstellt, erlaubt es, auch die vorangegangenen Stufen besser umzusetzen und - nach meiner Auffassung - die Spielfreude enorm zu steigern. Ziel ist es in diesem Zusammenhang vor allem, “passende” Akkordstrukturen über zugrunde liegende Akkorde im Verbund zu empfinden und abzuspielen, d.h. die Farbe eines Akkords über einem anderen Akkord wahrzunehmen und im Verbund abzurufen, was auch bei komplexen Klangstrukturen viel schneller “geistigen” Freiraum für die emotionale Fortführung einer Solo- bzw. Improvisationsstruktur schafft.
D. Schedel
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